Wir werden alt!

Warum ich Angst um meinen Heimatort habe

Ich wohne in einem kleinen schwäbischen Ort mit etwa 3.600 Einwohnern. Ich wohne gerne hier auf dem Land und könnte mir niemals vorstellen in eine Stadt zu ziehen. Das familiäre Gefühl, zu wissen, wer neben einem wohnt und die Leute in der Gemeinde zu kennen, das ist mir wichtig. Die Städte, die ich kennen gelernt habe, sind wesentlich anonymer, kaum einer trifft sich auf der Straße zum kurzen Plausch mit den Nachbarn, und manche kennen ihre Nachbarn nicht einmal. Vereine und andere lokale Communities sind wesentlich weniger präsent.

Leider weiß ich aber auch, dass nicht jeder das Landleben so sieht. Langweilig, nervig, nichts los, das sind Worte, die viele meiner Altersgenossen wohl für meinen Heimatort verwenden würden. Dementsprechend verlassen viele das „öde“ Land, um zu studieren, eine Ausbildung zu machen oder einfach grundsätzlich von zu Hause wegzukommen, und ziehen in eine Stadt. Ich mache das nicht so, ich habe anderen Pläne. Aber dazu mehr in meinem nächsten Artikel (unter der Kategorie „Privates“ – „Das Haus“ zu finden).

Auch wenn ich den Umstand, dass der eigene Heimatort für viele junge Menschen unbeliebt wird, persönlich nicht nachvollziehen kann, muss er einen Grund haben. Klar, in Dörfern gibt es keine Clubs, keine hippen Bars und keine Szene. Aber die meisten, die ich kenne, feiern doch ohnehin lieber zu Hause, denn auch in Sindelfingen oder Böblingen muss man meist mit dem Auto zum nächsten guten Club fahren, oder sich stundenlang mit den Öffentlichen durch die Stadt quälen. Warum also einen zum Fahrer degradieren, wenn es nicht sein muss?

Ich denke, diese „junge Heimatflucht“ hat einen anderen Grund. Ich glaube, dieser liegt viel tiefer als in der eigentlichen Infrastruktur, und auch nicht darin, dass es in der nächsten Stadt bessere Jobs gibt. Die folgenden Gründe kann ich mir vorstellen.

Diese „unangenehme“ Transparenz.

In Dörfern geht alles seinen gewohnten Gang. Jeder kennt jeden, jeder weiß beinahe alles, was die anderen tun, und das Leben ist praktisch transparent. Man kennt sich, weiß um die Probleme seiner Nachbarn und teilt viele Momente mit ihnen. Das kann schön sein, denn so entstehen Nachbarschaftshilfe, Freundschaften und ein kurzes Schwätzchen auf der Straße. Doch ich bin mir sicher, dass nicht jeder mit dieser, doch eher begrenzten, Privatsphäre zurechtkommt. Wenn ich nachts spät nach Hause komme, wissen das meine Nachbarn. Mindestens einer hat das Auto herfahren sehen. Genauso wissen sie, wer zu Besuch kommt und bekommen genau mit, wann ich eine Party veranstalte. Und genauso, wie ich nicht von den Nachbarn gestört werden will, versuche ich auch, diese nicht zu stören. Man ist sich gegenseitig eben nicht egal. Das kann einschränken, wenn man eine Party feiern will, oder wenn viele Leute zu Besuch sind, die die Straße vollparken. Und junge Menschen wollen manchmal einfach nur an sich denken und ihren Spaß haben, ohne dafür verurteilt oder sogar angezeigt zu werden. Sie wollen im Supermarkt Alkohol kaufen, ohne jemanden zu treffen, den sie kennen und der sie dabei „erwischt“. Die Anonymität einer Stadt ist dann natürlich vorteilhaft.

Das ist ein Grund, den ich mir sehr gut vorstellen kann. Auch wenn es mich manchmal nervt, dass gefühlt das ganze Dorf schon vor mir über mein eigenes Leben Bescheid weiß, ist es mir jedoch hundertmal lieber als die Anonymität. In meinem Heimatort interessiert man sich füreinander. Manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr, sodass es in Neugier umschwenkt. Aber ich kann hier noch etwas erzählen und ein offenes Ohr dafür finden.

Die fehlende Mitbestimmung.

Ein weiterer, wohl noch größerer Grund für die „junge Heimatflucht“ ist für mich jedoch ganz klar der Fakt, dass junge Menschen in traditionell geprägten Ortschaften nicht so viel zu sagen haben. In Studentenstädten stehen junge Leute noch eher im Mittelpunkt, sie werden angelockt, und die Stadt wird für sie attraktiviert. In kleineren Orten stehen jedoch Familien und ältere Menschen im Mittelpunkt, eben die Personen, die klassisch nach einer ruhigen und familiären Umgebung suchen. Natürlich macht das irgendwo Sinn, doch der „Nachwuchs“ der Ortsbewohner schwindet dabei.

Betrachtet man die Einwohnerzahlen der letzten Jahre, schrumpft mein Heimatort immer mehr zusammen. Es sterben mehr Menschen, als geboren werden, und es ziehen mehr Menschen weg, als zuziehen. Betrachtet man jedoch die Größe des Ortes, fällt auf, dass sich dieser immer mehr ausbreitet. Hier ein neues Wohngebiet, dort noch ein neues, obwohl die letzten Bauplätze noch gar nicht alle bebaut sind, und so weiter. Die Einwohnerzahlen sinken, ältere Häuser stehen leer, und trotzdem wird immer und immer mehr Land versiegelt. Es entsteht also nicht nur eine Heimatflucht, sondern auch eine Altortflucht. Praktisch ein Kombinations-Problem.

Von der Seite der Kommune gibt es für die „Altortflucht“ eine Lösung, die sich „Altortförderung“ nennt. Deren Richtlinien haben jedoch wiederum null Komma nichts mit einer Förderung von jungen Mitbewohnern zu tun, und das aus verschiedensten Gründen. Erstens kann nur die Sanierung oder anderweitige Investition in eine Immobilie, welche mindestens 55 Jahre alt ist, gefördert werden. Zweitens muss die Investitionssumme mindestens 100.000 Euro betragen. Und drittens betrifft die Altortförderung nur einen sehr begrenzten Teil des Gemeindegebiets. Insgesamt attraktiviert diese Förderung also in kaum einem Punkt eine Investition, welche durch eine Person unter 25 Jahren in eine schnieke Wohnung im Ort getätigt werden kann. Darüber hinaus gibt es Klauseln mit Rückzahlungsverpflichtungen und so weiter. Insgesamt frage ich mich sowieso, in welchem ganz definierten Spezialfall diese Förderung überhaupt beantragt werden kann – eigentlich nur dann, wenn eine eigentlich noch nützliche Bausubstanz abgerissen wird.

Manchmal verstehe ich diese Ansätze der Kommunalpolitik nicht. Weder die Outcomes der Kommunalpolitik noch die Politik selbst sind von oder für junge Menschen gemacht. Genauso, wie es im Interesse jedes Vereins liegen sollte, junge Leute zu Ehrenämtern zu motivieren, sollte es doch auch im Interesse einer Gemeinde liegen, junge Menschen zum Bleiben zu bewegen. Wenn ich aber sehe, was der Gemeinderat so diskutiert, denke ich direkt an das Problem aus meinem Verein (man lese hierzu auch meinen Beitrag zum Thema Ehrenämter). Junge Menschen haben keine Lust, sich in solch einer Umgebung einzubringen. Es fehlt an Innovationen, Mitspracherecht und Möglichkeiten.

Ich weiß nicht, ob ich Recht habe, und ob das tatsächlich die Gründe für die junge Heimatflucht sind. Aber ich bin mir sicher, dass die Politik etwas tun muss – nein – WIR etwas tun müssen, um dafür zu sorgen, dass unser Ort auch in Zukunft lebenswert und liebenswert bleibt. Und zwar für alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen.

3 Kommentare zu „Wir werden alt!

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